Freitag, 12. April 2013

regentag in berlin

jedesmal, wenn ich aufnahmen aus berlin ende der 20er jahre sehe, fange ich unwillkürlich an, zu suchen, ob vielleicht mein großvater auf diesem bild sein könnte. ich kann nichts dagegen machen - es ist wie ein automatismus, eine art aufregung, erwartungshaltung. theoretisch könnte er doch irgendwo festgehalten sein, per zufall, und alles, was ich tun muss, ist ihn zu finden...

mein großvater ist 2005 gestorben, war jedoch vorher mir schon irgendwie fern - ein mensch, der nähe kaum zulassen konnte, niemandem wirklich vertraute außer seiner frau. nur als kind war das anders, wenn er mich mit ins "herrenzimmer" nahm, für mich kleinen knirps limericks erfand und diese dann mit lustigen zeichnungen illustrierte... vielleicht suche ich mich selbst, indem ich versuche, ihm nachzuspüren. je älter ich werde, um so mehr gemeinsamkeiten entdecke ich zwischen uns, stelle fest, daß ich charaktermäßig sehr nach ihm schlage.

1927 war er vermutlich schon ein jahr in der lehre, nachdem er die oberschule mit dem abitur abgeschlossen hatte. und obwohl er noch "stift" war, schickten ihn seine vorgesetzten als unterstützung für seinen chef ins mondäne berlin, weil dort ein vertreter fehlte.
 
bildquelle: stockholm transport museum
(flickr commons, keinerlei copyrights bekannt)

ich versuche, mir ihn vorzustellen, schmales gehalt (obwohl er eine großstadtzulage erhielt) und der duft der großen weiten welt. es war die große zeit der varietés, berlin war berühmt dafür, und oft war mein großvater im "wintergarten" oder ähnlichen etablissements anzutreffen: natürlich nicht auf den feinen plätzen, sondern irgendwo ganz hinten, stehplätze allerhöchstens, vielleicht auch nach der pause 'reingeschlichen - für einen gerade mal zwanzigjährigen jungen aus der provinz ein abenteuerliches leben. zum nachhausefahren mit der tram hatte er das geld nicht mehr, erzählte er mir, also machte er sich nach ende der vorstellung zu fuß auf den anderthalbstündigen heimweg.

das wilde berlin der 20er jahre. ab und zu schaue ich mir ruttmanns "sinfonie der großstadt" (1927) an, und jedesmal wieder suchen meine augen, immer wieder neu, in den vorbeiflimmernden menschenmassen nach dem bild meines großvaters. er könnte theoretisch einer sein von den vielen, die die kamera im vorbeihasten eingefangen hat - männer, sportlich mit knickerbockern und kappe, oder elegant mit mantel und hut, zigarette rauchend... natürlich ist das unsinn, und ich bin ein sentimentales weichei ;-)
das foto stammt aus den archiven des stockholmer verkehrsmuseums und wurde 10 jahre später, nämlich 1937, aufgenommen. trotzdem enthält es für mich noch ein wenig der stimmung des wilden berlins, wenn auch dieses mal ins melancholische verkehrt. aber eigentlich ist es nur das bild eines regentages in berlin...
 
  
  

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